Heute nehmen wir den Shinkansen von Tokyo nach Kyoto. Die erste Schwierigkeit: Wie kommen wir in der Rushhour mit drei Familien, sechs Kindern und zahlreichen Koffern in den völlig überfüllten U-Bahnen vom Hotel zum Bahnhof? Miyoko schlägt vor, besser ein Taxi zu nehmen. Wie – in der Rushhour mit dem Auto durch die Millionenmetropole, kann das gut gehen? Doch tatsächlich: Rushhour in Tokyo heißt volle Züge mit allem, was man aus dem Fernsehen kennt (es wird auch noch der letzte reingequetscht). Aber es gibt fast keine Pendler, die mit dem Auto zur Arbeit fahren (denn kein Arbeitgeber bezahlt den ultrateuren Parkplatz). Wir erreichen also völlig ohne Stau in drei Taxen den Bahnhof.
Dort holen wir uns noch eine Bento-Box (diese japanische Variante einer Lunchbox gibt es mit verschiedensten Inhalten an vielen Stellen im Bahnhof zu kaufen) und beziehen unsere vorab reservierten Sitzplätze im geräumigen Zug – im Shinkansen darf man im Gegensatz zu den Lokalbahnen essen. Sagenhafte zweieinhalb Stunden später sind wir, natürlich auf die Minute pünktlich, im 450 Kilometer entfernten Kyoto.
Ein Besuch von Kyoto ist sicherlich ein Highlight jeder Japanreise. Die Stadt war von 794 bis 1868 Sitz des Kaiserhofes und beherbergt heute sage und schreibe 14 Tempel und Shinto-Schreine (plus drei weitere in Nachbarorten), die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören – nur einen kleinen Teil davon haben wir uns angeschaut (also müssen wir unbedingt wiederkommen!). Aber es ist nicht allein diese Häufung an Superlativen, auch das besondere Flair dieser Stadt hat es uns sehr angetan.
Der futuristische Bahnhof in Kyoto entspricht so gar nicht den Erwartungen an eine alte Kaiserresidenz. Bei seiner Eröffnung 1997 hat er heftige Diskussionen ausgelöst, mittlerweile ist er mit seinem Skywalk zum modernen Aushängeschild der Stadt geworden.
Wir begeben uns in das nahe Hotel, das wir sofort wieder verlassen, um mit U-Bahn und Bus unser erstes Ziel anzusteuern: den Kinkaku-ji. Dieser buddhistische Tempel, der eigentlich Rokuon-ji (Rehgartentempel) heißt, verdankt seinen bekannteren Namen und seine Berühmtheit seinem Goldenen Pavillon und gehört seit 1994 zum Weltkulturerbe. Der Tempel wurde Ende des 14. Jahrhunderts vom Shogun Ashikaga Yoshimitsu (Shogun ist ein Militärtitel für einen Anführer aus dem Kriegeradel der Samurai) erbaut, der als Förderer von Kunst und Kultur galt. Unter ihm entwickelte sich die Kitayama-Kultur mit Künsten wie der Teezeremonie, der Tuschmalerei und der Landschaftsgärtnerei – Künste, die heute noch als „typisch japanisch“ gelten.
Schon als wir am Eingangstor unsere Tickets lösen ist zu spüren, dass es gleich etwas ganz besonderes zu sehen gibt – denn es strömen Massen von Leuten in den Tempel – Schulklassen, Busladungen von Touristen aus aller Welt und auch viele Einzelreisende. Hinter einer Wegbiegung öffnet sich dann der Blick auf – fotografierende Menschenmassen. Doch das Ziel ist ebenfalls unschwer zu erkennen, es blitzt goldig immer wieder zwischen den Reihen hervor: der berühmte Goldene Pavillon. Dieser besteht aus drei mit Rundbalkonen umgebenen Etagen, die oberen beiden sind mit Blattgold geschmückt. Ein goldener Vogel thront auf der Spitze des pagodenähnlichen Daches. Der Pavillon beherbergt verschiedene Kunstschätze und Reliquien, er ist innen nicht zu besichtigen.
Das heute zu sehende Bild ist eine originalgetreue Rekonstruktion aus dem Jahr 1955, denn 1950 fiel der Tempel der Brandstiftung eines fanatischen Klerikers zum Opfer. Dies tut seiner Schönheit jedoch keinen Abbruch. Trotz der prunkvollen Verkleidung fügt sich der Tempel harmonisch in die umgebende Landschaft ein. Die strahlende Sonne lässt das Gold noch mehr leuchten und die Spiegelung im Teich könnte nicht schöner sein – ein Bild, das an Ästhetik kaum zu übertreffen ist.
Wir haben uns in der Zwischenzeit „nach vorne gekämpft“. Der Situation kommt sehr zugute, dass der Pavillon auf einer Halbinsel im See steht. Dieser bildet einen perfekten Abstandshalter, so dass jeder, wenn er mal am Ufer angelangt ist, ein Foto ganz ohne Menschen oder nur mit seinen Lieben und dem Goldstück machen kann.
Ein Rundweg führt um den See bzw. den Pavillon und weiter durch eine sehr gepflegte Gartenanlage, in der unter anderem ein Teehaus, diverse Imbiss- und Verkaufsstände sowie weitere religiöse Gebäude befinden. Es gibt viele nette Kleinigkeiten zu entdecken oder zum Beispiel „sein Glück zu versuchen“ beim Münzwurf. Das Fazit für uns: Die Ästhetik des Goldenen Pavillon hat uns begeistert, der Weg durch die Anlage war ein netter, unterhaltsamer Spaziergang. Sicherlich ein „Must-See“ eines Kyoto-Besuchs, auch wenn der Trubel mitunter etwas lästig war.
Einen etwas längeren Fußmarsch oder kurze Busfahrt vom Kinkaku-ji entfernt liegt der Ryoan-ji (Tempel des zur Ruhe gekommenen Drachens), ebenfalls seit 1994 Weltkulturerbe. Der Tempel wurde im 15. Jahrhundert gegründet und beherbergt den wichtigsten Zen-Garten Japans. Wir spazieren zunächst durch einen hübschen, weitläufigen Park, in dem unter anderem eine Buddha-Statue und ein kleiner Shinto-Schrein stehen. Sind wir am Zen-Garten schon vorbei gelaufen?
Doch dann nähern wir uns dem Hauptgebäude, an dessem Eingang man die Schuhe auszieht, und sehen auch kurz darauf die Hauptattraktion. Umgeben von einer Mauer liegt der 25×10 Meter große, mit geharktem weißen Kies gefüllte Garten. 15 Steine in fünf mit Moos umgebenen Gruppen, umgeben von kreisförmig gezogenen Linien im Kies, liegen darin, aus keiner Perspektive sind alle Steine gleichzeitig zu sehen. An zwei Seiten kann man auf hölzernen Stufen einer Veranda sitzen und das Ensemble auf sich wirken lassen, die anderen Seiten sind von einer Mauer umgeben. Die Schlichtheit der Anlage und die Ruhe des Ortes laden zum Meditieren ein und unweigerlich macht sich jeder Gedanken darüber, was er in dieser Anlage sieht – jeder hat so seine eigenen Assoziationen. Ein Ozean mit seinen Inseln? Bergspitzen, die aus den Wolken herausragen? Der Kosmos mit seinen kreisenden Planeten? Eine oft zu lesende Interpretation von einer Tigermutter, die mit ihren Jungen einen See überquert, kann ich irgendwie nicht sehen. Wie auch immer, es macht Spaß, sich gerade auch mit Kindern Gedanken dazu zu machen.
Hinter der Veranda befindet sich ein typischer traditionell-japanischer Raum mit Tatami-Matten und Schiebetüren – hier finden manchmal Teezeremonien statt. Neben dem Gebäude ist auch ein traditionelles „Tsukubai“ zu sehen, ein Wasserbecken, in dem sich der Teegast vor Betreten des Teeraumes rituell die Hände und den Mund wäscht. Durch den Park, an einem hübschen See entlang, laufen wir zurück zum Ausgang.
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